Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister – Teil 6: Das Haus in der Fischerstraße 3

Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister – Teil 6: Das Haus in der Fischerstraße 3

Die jüdische Familie Luchtenstein war in Wurzen sehr angesehen und beliebt. Vater Hugo Luchtenstein hatte in der Jacobsgasse ein Geschäft und soll auch von Kunden und Mitarbeitern sehr geschätzt worden sein. Die beiden Söhne Hans und Walter wuchsen in der Stadt auf und gingen hier zur Schule. Die Familie besaß ein Haus in der Fischerstraße 3.

Nach der Machtergreifung der NSDAP wurde die Lage, wie für alle Juden in Deutschland, auch für Familie Luchtenstein immer schwieriger. In den Erinnerungen von Hans Luchtenstein heißt es:

„Es wurde so dringend, dass mein Vater begann, sich nach Kontakten umzusehen, die er über den Großeinkauf-Verein knüpfen hatte können. Ungefähr Ende 1937-1938 machte er Bekanntschaft mit einem Mann namens Dr. Bower, einem Geschäftsmann. Er bereicherte sich daran, Geschäfte von Juden zu einem sehr niedrigen Preis zu kaufen, was ihm selbst natürlich einen sehr hohen Lebensstandard einbrachte. Dieser Dr. Bower stimmte dem Kauf des Geschäfts meines Vaters zu.“

Nach den Akten des Bundesamtes für offene Vermögensfragen erlässt die Zollfahndungsstelle Leipzig im September 1938 eine vorläufige Sicherungsanordnung gegen Hugo Luchtenstein, die im Oktober 1938 durch die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten Leipzig bestätigt wird. Im Sächsischen Staatsarchiv findet sich in den Beständen des Oberfinanzpräsidenten Leipzig unter der Signatur 917/1 eine Information dazu:

„Ich habe gegen die Eheleute Hugo Luchtenstein, Wurzen, Fischerstraße 3, am 12. Oktober 1938 eine Sicherungsanordnung erlassen, nach der diese über ihr Geschäftsvermögen und ihre Lebensversicherungen sowie über ihre Grundstücke nur mit meiner Genehmigung verfügen dürfen.“

In der Reichspogromnacht wird auch das Warenhaus der Luchtensteins in der Jacobsgasse zerstört, Vater Hugo und Sohn Walter werden verhaftet. Hans Luchtenstein erinnert sich:

„Kurz vor der Kristallnacht hatte mein Vater eine Vereinbarung mit jenem Dr. Bower getroffen, dass er 1000 $ in der Schweiz für ihn zurücklegen sollte, als erste Rate für den Kauf des Geschäfts. Als Walter im Konzentrationslager war, wurde ihm nahegelegt, dass die einzige Möglichkeit, dort rauszukommen, war, dass er das Land auf der Stelle verließe. Also tat mein Vater alles, was in seiner Macht stand, um die Verhandlungen zu beschleunigen. Er war gezwungen, den Laden für fast nichts zu verkaufen, um an das Geld heranzukommen, das Walter die Flucht ins Ausland ermöglichte. Walter kannte eine Familie, die bereits nach England geflüchtet war, und es wurde entschieden, dass er bei ihnen unterkommen sollte. Mit dem zurückgelegten Geld konnte er der dortigen Regierung zeigen, dass er nicht von ihrem Staat abhängig werden würde.“

Nach den Akten des Bundesamts für offene Vermögensfragen wird im November 1938 die Firma von Hugo Luchtenstein ohne Grundstück an die Fa. H. Eplinius & Co. KG, Inhaber Walter Bauer, vermutlich später Fa. Bauer & Co. KG verkauft. Am 09.08.1939 erfolgt auch der Verkauf des Grundstücks an die Fa. Bauer. Die Verkäufe wurden durch den Oberfinanzpräsidenten, Devisenstelle und Regierungspräsident zu Leipzig genehmigt, der Kaufpreis auf ein Sperrkonto überwiesen.

Ebenso wie Walter Luchtenstein flieht auch Hans Luchtenstein 1939 nach England. 1940 ziehen Hugo und Hedwig Hertha Luchtenstein, evtl. um nicht ins Judenhaus nach Leipzig zu müssen, zu Verwandten nach Berlin. Zu dieser Zeit ist Dr. Armin Graebert bereits Oberbürgermeister in Wurzen.

Am 6. Juni 1940 erscheinen in Wurzen vor dem Verwaltungsinspektor Gerhard Reiche Herr Oberbürgermeister Dr. Armin Graebert als gesetzlicher Vertreter der Stadt Wurzen, Frau Hedwig Hertha Sara verehel. Luchtenstein, geb. Markowitz und Herr Hugo Israel Luchtenstein und vereinbaren folgenden Kaufvertrag: Frau Luchtenstein verkauft ihr in Wurzen, Fischerstraße 3, gelegenes, auf Blatt 1660 für Flur Wurzen eingetragenes Hausgrundstück mit allen Rechten und Lasten an die Stadt Wurzen zu einem Kaufpreis von insgesamt 35 000 Reichsmark.

Wie aus dem Kaufvertrag zu ersehen ist, haben die Eheleute Luchtenstein  entsprechend der Namensänderungsverordnung bereits den zusätzlichen Vornamen Israel bzw. Sara angenommen, der sie als Juden kennzeichnete.

Der Kaufpreis, vermindert um noch bestehende Lasten und Hypotheken sollte auf ein Sperrkonto auf den Namen von Hugo Luchtenstein überwiesen werden. Falls Hugo und Hedwig Luchtenstein ihr Haus in der Hoffnung verkauft haben, mit dem Verkaufserlös Deutschland verlassen zu können, wurden sie enttäuscht. Nach den Unterlagen des Bundesamtes für offene Vermögensfragen wurde am 03.10.1941 ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Am 18.10.1941 wurden beide nach Litzmannstadt deportiert und am 08.05.1942 in Kulmhof ermordet.

Nach den Akten des Grundbuchamtes ist mit Datum vom 28. Juni 1940 die Stadt Wurzen als Eigentümer des Wohngrundstücks Fischerstraße 3 im Grundbuch eingetragen. Zu welchem Zeitpunkt Familie Graebert dort eingezogen ist, lässt sich nicht eindeutig klären, eventuell hat sie schon zuvor darin gewohnt. Nachdem Luchtensteins nach Berlin gezogen waren, stand das Haus leer und laut Wohnraumlenkungsverordnung (siehe Teil 5) oblag es der Gemeindeverwaltung, „frei gewordenen“ Wohnraum zu vergeben.

Mit Sicherheit wohnte Familie Graebert aber am 5. September 1941 im ehemaligen Haus der Familie Luchtenstein. Im Bundesarchiv findet sich ein schriftlicher Antrag von Dr. Graebert an die Reichsschrifttumskammer, mit welchem er einen Befreiungsschein für seine Tätigkeit als Schriftsteller beantragt, als Wohnadresse ist Wurzen, Fischerstraße 3, angegeben. Dieselbe Adresse wird schließlich als letzte Wohnanschrift von Dr. Graebert im Schreiben des Antifaschistisch-Demokratischen Blocks angegeben, mit dem dessen Freilassung aus dem Speziallager Jamlitz erreicht werden sollte.

Heute heißt die Fischerstraße Heinrich-Heine-Straße, vor der Hausnummer 3 sind vier Stolpersteine mit den Namen von Hugo, Hedwig, Walter und Hans Luchtenstein verlegt. Bei der Verlegung waren zahlreiche Nachkommen der Luchtensteins aus England und den USA angereist, im Zuge der Recherchen zur Familie Luchtenstein haben sich freundschaftliche Beziehungen mit Wurzener Bürgerinnen und Bürgern entwickelt. Im vergangenen Jahr hat die EJK eine bewegende Filmdokumentation aus einer Original-Tonbandaufnahme erarbeitet, die Hans Luchtenstein seinen Nachkommen hinterlassen hat.

Siehe auch:

Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister

Teil 2: Karriere in der Gauhauptstadt Weimar

Teil 3: Weimar und das K-Lager Buchenwald

Teil 4: Wer wusste was in Weimar über das KZ Buchenwald?

Teil 5: Bodenreform im Nationalsozialismus