CDU Wurzen will NSDAP-Gefolgsmann ehren

CDU Wurzen will NSDAP-Gefolgsmann ehren

Kurz nach Beginn der Veröffentlichung unserer Reportage über Dr. Armin Graebert erreichte uns die kritische Anfrage eines Wurzener Bürgers, weshalb wir uns mit dessen Vergangenheit beschäftigen. Darin enthalten war die bemerkenswerte Aussage, dass doch „im Falle Graebert die Entscheidung zwischen Nazi und Stadtrettung wohl eindeutig zugunsten des letzteren“ ausfallen solle.

Verwunderlich ist das nicht, immerhin arbeitet seit den 90er Jahren eine Gruppe von Menschen sehr intensiv daran, der Öffentlichkeit das Bild von Dr. Graebert als „Retter von Wurzen“ zu vermitteln, wie unter anderem in einem gleichnamigen Beitrag des MDR (siehe Foto) zu erfahren ist.

Nicht zuletzt bildet diese Auffassung schließlich auch die Grundlage für die im April 2019 von der Wurzener CDU-Fraktion initiierte Beschlussfassung zur Benennung einer Straße im Stadtgebiet nach Dr. Graebert, die übrigens nach wie vor gültig ist, was wiederum der Auslöser unserer Recherchen war.

Aber wiegt tatsächlich die kampflose Übergabe der Stadt schwerer als dessen NSDAP-Vergangenheit? Und darf man eine solche Aussage treffen, ohne über die Hintergründe der betreffenden Person tatsächlich informiert zu sein?

Zur Person des ehemaligen Wurzener NSDAP-Oberbürgermeisters haben wir in den vorherigen sechs Teilen unserer Reportage ausführlich informiert:

Dr. Graebert hatte nachweislich hohe Ämter innerhalb der NSDAP (siehe Teil 1), war als Weimarer Stadtkämmerer verantwortlich involviert in die Eingemeindung des Konzentrationslagers Buchenwald nach Weimar (Teil 3) und hatte Einblick in dessen innere Vorgänge (Teil 4), hat sich im Rahmen seiner Parteiämter aktiv in Wort und Schrift für die Ideale und Ziele der NSDAP und die Umsetzung der von deren Führung erlassenen Gesetze und Verordnungen eingesetzt (Teil 5) und war an der Enteignung zumindest einer jüdischen Wurzener Familie beteiligt, von der er selbst profitiert hat (Teil 6).

Im siebenten und letzten Teil soll es nun noch einmal um die letzten Kriegstage in Wurzen im April 1945 gehen, die ja der Anlass für die von der Wurzener CDU-Fraktion initiierte geplante Ehrung sind. Beschäftigt man sich näher mit den Geschichten darüber, die ebenfalls Grundlage des entsprechenden Stadtratsbeschlusses sind, fällt auf, dass diese zumeist auf in der Presse veröffentlichten Erzählungen beruhen, teils berufen sich Autoren auf eigene vorangegangene Presseberichte, konkrete nachprüfbare Dokumente werden dort jedoch meist nicht als Quelle benannt.

Stadtchronist Wolfgang Ebert schrieb 1995 in seinem Beitrag „Geschichten und Legenden“, veröffentlicht im Buch „Grenzfluss Mulde“, sehr interessant darüber, wie Legenden entsprechend der jeweils herrschenden Ideologie geschaffen werden und wie letztendlich die Geschichte von den Siegern (um)geschrieben wird. Er verweist auch explizit auf mehrere verschiedene Versionen, die zur Übergabe der Stadt Wurzen an die Amerikaner erzählt werden, jeweils im Sinne der herrschenden politischen Führung, von denen sich letztendlich jedoch keine wirklich nachweisen lässt (Quelle: Adolf Böhm: „Grenzfluss Mulde“, Sax Verlag 1995, 2. Auflage 2005, S. 127 bis 133).

Beschäftigt man sich allerdings mit den wenigen tatsächlich vorhandenen Dokumenten, stößt man schnell auf Widersprüche. Ein Beispiel dafür findet sich in der Chronik der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde in Wurzen, in die wir mit Erlaubnis des Pfarramtes Einblick nehmen durften.

Der damalige Pfarrer Franz Wörner schrieb dort: „Der Eigenart des Vorganges wegen sei hier folgendes erwähnt: In der Nacht vom 23. zum 24. April meldete sich der Oberbürgermeister der Stadt Wurzen telefonisch, ob er zu einer Unterredung in die Kirche komme könne. … ‚Ich muss zu Ihnen hierher kommen, weil ich in der wichtigsten Entscheidung der Übergabe der Stadt an die Amerikaner gegen den Willen des Stadtrates und des Stadtkommandanten ganz allein stehe. Hier nur finde ich Kraft und Mut, den Schritt zur Übergabe zu tun. Ich will die mir liebgewordene Stadt mit ihren Einwohnern nicht der Vernichtung preisgeben.‘ … Es mag eine gute Viertelstunde des Zwiegesprächs vor Gott vergangen sein, als der Oberbürgermeister sich verabschiedete mit dankbarem Händedruck und mit dem sicheren Bewusstsein: Jetzt weiß ich, was ich tun muss. Und hier habe ich mir die Kraft geholt, um den als richtig erkannten Schritt auch zu tun…“

Dass Pfarrer Wörner im guten Glauben nachfolgend diese Version der Geschichte, in der sich Dr. Graebert selbst als einsamer Held präsentiert, in Wurzen verbreitet hat, legt der folgende Auszug aus der Chronik nahe: „Dies war für alle, die von dem Vorgang in der Nacht erfuhren, ein Zeichen der göttlichen Vorsehung und eine Mahnung, Gott allezeit Lob und Dank zu sagen….“

Es gibt aber noch zwei andere Dokumente, die den Zeitraum zwischen 22. und 24. April 1945 betreffen. Eins stammt von Major Gestefeld, dem von Dr. Graebert gegenüber Pfarrer Wörner erwähnten Kampfkommandanten. Dieser hat elf Jahre nach dem Krieg für das militärgeschichtliche Archiv der Bundeswehr einen Bericht über das Ende der Kampfhandlungen in und um Wurzen niedergeschrieben, veröffentlicht mit einem Vorwort von Wolfgang Ebert im oben bereits erwähnten Buch „Grenzfluss Mulde“ auf den Seiten 53 bis 55. Dort heißt es:

„… Der 23. April brachte eine überraschende Wendung durch den Befehl, mit allem Material (!) nach Norden abzurücken, um der Entsatz-Armee des Gen.-Obersten Wenck unterstellt zu werden zum Vormarsch auf Berlin. Der Kampfkommandant gab daraufhin den Befehl, in 3 Marschkolonnen mit den notwendigen Nachhuten auf den nach Norden führenden Straßen bei Dunkelheit zu sammeln.. Noch vorhandene Bestände an Wäsche etc. in der Kaserne wurden der Stadt für Bedürftige übergeben, Marschverpflegung ausgeteilt und mit Oberbürgermeister Dr. Graebert, der den Kampfkommandanten bestens unterstützte, die Übergabe der Stadt an die Amerikaner festgelegt. In Lüptitz verblieb das Lazarett. …“

Und auch die von Dr. Graebert selbst hinterlassenen „Notizen für spätere Aufzeichnungen“ sprechen dafür, dass dieser gegenüber Pfarrer Wörner nicht ehrlich war. In dem mit Schreibmaschine geschriebenen Dokument, das entsprechend des oben erwähnten Filmbeitrags im MDR aus dem Nachlass von Dr. Graebert stammen soll, heißt es.:

Beide Dokumente legen nahe, dass die Übergabe der Stadt an die Amerikaner bereits spätestens am 22./23. April 1945 beschlossen wurde, und zwar im Einklang mit zumindest einem Stadtrat und dem Kampfkommandanten Major Gestefeld, und dass zudem der Oberbürgermeister ausdrücklich durch ein Schreiben des Kampfkommandanten „ermächtigt“ und somit legitimiert war, Übergabeverhandlungen zu führen. In den Aufzeichnungen von Dr. Graebert ist an keiner Stelle die Rede davon, dass die Stadt zu diesem Zeitpunkt akut durch einen Bombenangriff der Amerikaner bedroht war, auch von der angeblichen konspirativen Zusammenarbeit mit dem Kommunisten Kurt Krause und dem Sozialdemokraten Otto Schunke im Vorfeld der Übergabe ist dort nichts zu lesen.

Auch sonst vermitteln die eigenen Aufzeichnungen des damaligen Oberbürgermeisters einen erstaunlichen Wandel: Während er beispielsweise noch 1944 in seinem Buch zur Wohnraumlenkung (siehe Teil 5) gegenüber seinen Bürgermeister-Kollegen dafür plädierte, „die sich aus den Anordnungen ergebenden Fragen Hand in Hand mit dem Hoheitsträger der Partei“ zu lösen und „bei der Zuteilung von Wohnungen an die unterzubringenden Volksgenossen vorher das Einvernehmen mit der Partei herzustellen“, vermitteln seine Ausführungen ein Jahr später den Eindruck, er sei selbst lediglich von Amts wegen gezwungen, mit den Vertretern der NSDAP, von denen er sich ansonsten distanziert, zusammenzuarbeiten.

Liest man die „Notizen für spätere Aufzeichnungen“ (eine vollständige Veröffentlichung findet sich im Buch von Heinz Gey: “Wurzens Schicksalstage”, Druckerei Bode, Seite 52 bis 58) im Lichte der nun bekannten Tatsachen, fühlt man sich als ehemalige DDR-Bürgerin unwillkürlich an die Zeit nach 1989 erinnert – auch damals versuchten Stasi- und SED-Funktionäre nach dem Zusammenbruch des politischen Systems, sich nach Kräften in einem neuen, anderen und besseren Licht zu präsentieren.

Was von den Berichten über die Rettung der Stadt Wurzen am 24. April 1945 Wahrheit ist und was Legende, wird sich wohl nie endgültig klären lassen. Unbestritten ist, dass es ein Verdienst von Dr. Armin Graebert war, die Stadt kampflos an die Amerikaner zu übergeben. Bleibt die für Wurzen entscheidende Frage: Überwiegt dieses Verdienst tatsächlich dessen Vergangenheit als NSDAP-Gefolgsmann?

Siehe auch:

Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister

Teil 2: Karriere in der Gauhauptstadt Weimar

Teil 3: Weimar und das K-Lager Buchenwald

Teil 4: Wer wusste was in Weimar über das KZ Buchenwald?

Teil 5: Bodenreform im Nationalsozialismus

Teil 6: Das Haus in der Fischerstraße 3

MDR-Video “Der Retter von Wurzen”