Herausfordernd, unbequem, störend – abgeschoben?

Herausfordernd, unbequem, störend – abgeschoben?

Die Adjektive im Titel hätten auch anders lauten können, z. B. kreativ, interessiert, hinterfragend, kritisch-objektiv, den Unterricht durch ihre besondere Sichtweise bereichernd, doch sehr oft werden Menschen mit einer seelischen Behinderung wie z. B. einer Autismus-Spektrum-Störung auf ihre von der Umwelt als negativ oder gar bedrohlich empfundenen Eigenheiten reduziert.

Deutlich wird dies am Beispiel eines Schülers mit diagnostiziertem Asperger-Syndrom, der vom Wurzener Lichtwer-Gymnasium aufgrund seines durch den Autismus bedingten Verhaltens ausgegrenzt und von der Schule suspendiert wurde.

Offiziell wird in sächsischen Schulen das Thema Inklusion ganz großgeschrieben. Ausführliche Informationen dazu gibt es vonseiten des Kultusministeriums u. a. auf dessen Webseite www.inklusion.bildung.sachsen.de. Dort wird explizit auf das am 11. April 2017 verabschiedete Gesetz zur Weiterentwicklung des Schulwesens im Freistaat Sachsen verwiesen:

„Das neue Schulgesetz greift insbesondere im § 4c »Sonderpädagogischer Förderbedarf« die Intentionen der UN-Behindertenrechts-Konvention nach gleichberechtigter, aktiver Teilhabe von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. Behinderung in einem inklusiven Bildungssystem auf. Im Fokus stehen die Erweiterung der Möglichkeiten der gemeinsamen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf bzw. Behinderung. Das Elternwahlrecht hinsichtlich des Förderortes wird gestärkt.“

Positive Praxisbeispiele und Projekte untermauern den postulierten Willen, gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Schülern am Regelschulunterricht zu ermöglichen. Wo die Stolpersteine liegen, sieht man allerdings erst bei genauerer Betrachtung. So gibt es zwar rein formell ein „Elternwahlrecht hinsichtlich des Förderortes“, die Entscheidung, ob ein Kind an einer bestimmten Schule unterrichtet wird, trifft laut Schulgesetz aber letztlich der Schulleiter, der, ohne dass es dafür konkret nachvollziehbare Rahmenbestimmungen gibt, nach eigenem Ermessen darüber befindet, ob an seiner Schule die „organisatorischen, personellen und sächlichen Voraussetzungen dem individuellen Förderbedarf des Schülers“ entsprechen.

Werden gegen einen Schüler Ordnungsmaßnahmen verhängt (gerade bei Schülern mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung eine häufige Reaktion auf störungsspezifische Verhaltensweisen), so haben die Eltern und die Betroffenen selbst zwar das Recht, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, die Entscheidung über den Vollzug der Maßnahme wird jedoch unter Ausschluss der Betroffenen schulintern gefällt. Es gibt weder eine Pflicht der Schule, dabei die Meinung von Fachleuten wie Ärzten, Psychologen oder Therapeuten des Schülers einzuholen oder gar zu berücksichtigen, noch die Möglichkeit, im Rahmen einer Anhörung direkt mit den Entscheidungsträgern z. B. der Klassenkonferenz in Diskussion zu treten.

Zwar gibt es für behinderte Schüler das Recht, bei bestehenden Diagnosen Hilfen zur Eingliederung zu beantragen und auch zu bekommen, die von den Jugendämtern auch bewilligt und bezahlt werden, jedoch haben weder Schüler oder Eltern noch das Jugendamt oder der Träger der Eingliederungsmaßnahme die Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen, ob und wie die Hilfe konkret in der Schule umgesetzt wird. Zwar erstellt im Regelfall das Jugendamt gemeinsam mit allen Beteiligten einen individuellen Hilfeplan, hat jedoch keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Schule, wenn dieser nicht eingehalten oder respektiert wird. Auch die Entscheidung über zu gewährende Nachteilsausgleiche, die für den Bildungs- und Lernerfolg entscheidend sein können, wird schulintern getroffen.

Ob Inklusion gelingt oder nicht, hängt also maßgeblich von der pädagogisch-psychologischen Kompetenz, dem freiwilligen Engagement und nicht zuletzt dem guten Willen der jeweiligen Schulleitung ab. Entsprechend erhalten Eltern in Krisensituationen immer wieder den gut gemeinten Rat, ihr Kind doch an einer anderen Regelschule anzumelden, wo man besser auf dessen Eigenheiten eingeht. Obwohl Inklusion im eigentlichen Sinne bedeutet, dass die Umgebung, also Schule und Gesellschaft, sich so gut wie möglich öffnen und anpassen, damit von Behinderungen betroffene Schüler für sich optimale Lernbedingungen vorfinden können, wird die gesamte Anpassungsleistung damit stattdessen vom Kind selbst abgefordert, das aus seiner gewohnten Umgebung, von vertrauten Mitschülern und Lehrern weggerissen wird und sich in gänzlich neue Bedingungen einfinden muss, was gerade für z. B. autistische Kinder eine enorme Herausforderung und oft auch zusätzliche Überforderung darstellt.

Hinzu kommt, dass Eltern behinderter Kinder sich nur selten gegen verhängte Ordnungsmaßnahmen wie einen Schulausschluss wehren, zum einen aus Angst, dass ihr Kind stigmatisiert wird, zum anderen aus der Befürchtung, selbst in der Öffentlichkeit als schuldig am auffälligen Verhalten ihres Kindes dargestellt zu werden, weil sie sich angeblich nicht ausreichend um ihren Sprössling gekümmert bzw. diesen nicht anständig erzogen hätten.

Was genau unterscheidet aber Schulen, in denen Inklusion gelingt von solchen, wo sie scheitert? Gemeinsam mit der Wurzener Stadtverwaltung wollen die städtische Integrationsbeauftragte Frauke Sehrt und Gleichstellungsbeauftragte Sylke Mathiebe dieser Frage auf den Grund gehen. Anhand von konkreten Einzelfällen soll dabei erforscht werden, wie Schulen im Landkreis Leipzig mit dem Thema Inklusion umgehen, welche Erfahrungen Betroffene und deren Angehörige im Umgang mit Schulleitungen, Jugendämtern, Beratungsstellen gemacht haben, welche Hilfsangebote es gibt, ob und wie sie von den jeweiligen Schulen genutzt bzw. zugelassen werden und welche Rolle z. B. Mitschüler und deren Eltern, Lehrer und Erzieher im Umgang mit der Behinderung spielen.

Dabei soll auch analysiert werden, welche Kompetenzen Schulsozialpädagogen und Vertrauenslehrer in Bezug auf Inklusion brauchen, welche konkreten Rahmenbedingungen das Schulgesetz vorgeben muss und wo erweiterte Mitspracherechte von Eltern, Ärzten, Therapeuten und anderen Fachpersonen sowie Jugendamt nötig sind.

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sollen in die Evaluation des derzeit auch an zwei Wurzener Grundschulen laufenden Pilotprojektes Inklusion einfließen, in dessen Rahmen der Verzicht auf sonderpädagogische Diagnostik in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung vor der Einschulung oder in der Klassenstufe 1 vorbereitet und erprobt wird.

Betroffene oder Interessierte, die über ihre Erfahrungen berichten oder sich austauschen wollen, wenden sich per Mail an frauke.sehrt@ndk-wurzen.de oder s.mathiebe@hotmail.de. Selbstverständlich werden alle Informationen auf Wunsch vertraulich behandelt.