Wurzener bitten: „Gib uns Frieden“

Als  überzeugte Atheistin bin ich eher selten in der Kirche, vielleicht ist das ein Grund dafür, dass mich der Montagabend in der Stadtkirche St. Wenceslai so tief beeindruckt hat. Ganz sicher haben aber auch die vielen Menschen Anteil daran, die wie ich der Einladung der evangelischen und der katholischen Kirchgemeinde Wurzen sowie der Stadtverwaltung zum Friedensgebet für Offenheit, Miteinander, Vertrauen gefolgt sind. Grund für die Einladung waren die jüngsten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Flüchtlingen und Deutschen in der Stadt, die weit über die Region hinaus für großes mediales Interesse gesorgt haben.

Lehre uns Streit – die gemeinsam gesungene musikalische Einstimmung gab die Richtung vor, die sich die Organisatoren für den Abend gewünscht haben. Und zu  Wort gemeldet haben sich viele:

Der Wurzener, der den Mut hatte zu sagen, dass er sich schämt für das, was in seiner Stadt geschehen ist und dafür, was er selber nicht getan hat, um solches zu verhindern.

Die Integrationsbeauftragte, die fürchtet, dass ihre Arbeit mit Flüchtlingen und ehrenamtlichen Helfern falsch verstanden und bewertet wird.

Die Seniorin, die nicht ans Rednerpult gekommen ist, sondern von ihrem Platz aus gesprochen hat, weil sie zum Stehen einen Halt braucht, und trotzdem mit fester Stimme ihre Empörung darüber zum Ausdruck brachte, dass ihre ganze Stadt in den Medien als „braunes Herz im Muldental“ stigmatisiert wird.

Die Jugendliche, die es stört, dass Leute wegschauen, wenn schlimme Dinge passieren und die Wurzener zum Hinschauen und Einmischen aufrufen will.

Der Flüchtling aus dem Iran, der seinerzeit von einer deutschen Familie aufgenommen wurde, in Sachsen viele gute Menschen kennengelernt hat und nun selber anderen hilft.

Der Oberbürgermeister, dem es warm ums Herz geworden ist beim Anblick so vieler Wurzener, die sich aufgemacht haben, um für ein friedliches Miteinander Gesicht zu zeigen.

Der Vereinsvorstand, der sich wünscht, dass Wurzen künftig in der Öffentlichkeit so dargestellt und wahrgenommen wird, wie es wirklich ist.

Der Unternehmer, der nicht verstehen kann, wie es zu solch einem Hass auf Fremde und einer derartigen Gewalteskalation in der Stadt kommen konnte und mahnt, aus der Vergangenheit zu lernen.

Der ehemalige Zeitungsredakteur, der an die Friedensgebete an gleicher Stelle gegen den Irakkrieg erinnerte und sich, obwohl Leipziger, gerade jetzt auch als Wurzener fühlt.

Der Kirchenmann, der bereit ist, sich selbst zu hinterfragen und mahnt, nicht so oft im Geiste weit weg und unterwegs zu sein, sondern auch immer wieder zu sich selbst zu kommen, denn nur wer sich selbst versteht, kann auch andere verstehen.

Der „Zugereiste“ aus den alten Bundesländern, der ein Umdenken im Umgang miteinander und eine neue Reformation in den Köpfen erreichen möchte.

Der Künstler aus dem Leipziger Land, der in seiner Arbeit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur kennengelernt hat und den Wurzenern Mut zu Offenheit und Aufgeschlossenheit im Umgang mit dem Fremden machen will.

Die Vertreter der Gruppe, die sich vor dem Friedensgebet zu einem sogenannten „historischen Stadtspaziergang“ durch Wurzen aufgemacht hatte, haben die Kirche nach kurzer Zeit wieder verlassen, ohne sich zu Wort gemeldet zu haben – sie hatten dann wohl doch nichts zu sagen.

Was mir noch lange in Erinnerung bleiben wird, ist ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das nicht nur beim gemeinsamen Singen zum Ausdruck kam, sondern auch im gegenseitigen Respekt für die Meinung der anderen und in der Bereitschaft, die Sorgen und Wünsche der Mitmenschen anzuhören, zu verstehen und ernst zu nehmen.

Das Vaterunser haben meine Nachbarn auf der Empore ohne mich gebetet, ich glaube nicht an einen Vater im Himmel, der mir mein täglich Brot beschert und meine Sünden vergibt. Böse war mir deshalb niemand und auch das gehört ja zum gegenseitigen Respekt und zum einander Zuhören. Mit dem Friedensgebet des heiligen Franziskus von Assisi hat mir der Pfarrer aus dem Herzen gesprochen.

Ich habe viele frohe und hoffnungsvolle Gesichter gesehen, als sich schließlich alle, begleitet von den Glocken von St. Wenceslai, auf den Heimweg gemacht haben und habe noch während der Rückfahrt  im Auto „Dona nobis pacem“ vor mich hin gesungen.

Aber Bitten und Gebete allein werden nicht ausreichen, um Frieden in unserer Stadt zu haben. Wir werden selber etwas dafür tun müssen, jeder an seinem Platz und mit den Mitteln, die er eben hat, und trotzdem indem, wie es in dem Aufruf hieß, alle an einem Strang ziehen. Das Friedensgebet in St. Wenceslai war ein guter Anfang.