Pilotprojekt Inklusion birgt Gefahren

Pilotprojekt Inklusion birgt Gefahren

„Als soziologischer Begriff beschreibt das Konzept der Inklusion eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen.

In der inklusiven Gesellschaft gibt es keine definierte Normalität, die jedes Mitglied dieser Gesellschaft anzustreben oder zu erfüllen hat. Normal ist allein die Tatsache, dass Unterschiede vorhanden sind. Diese Unterschiede werden als Bereicherung aufgefasst und haben keine Auswirkungen auf das selbstverständliche Recht der Individuen auf Teilhabe. Aufgabe der Gesellschaft ist es, in allen Lebensbereichen Strukturen zu schaffen, die es den Mitgliedern dieser Gesellschaft ermöglichen, sich barrierefrei darin zu bewegen.” (Quelle: www.inklusion-schule.info)

Einen Versuch, diese Ansprüche, die aus der UN-Behindertenrechtskonvention resultieren, in die Praxis zu übertragen, unternehmen derzeit die beiden Wurzener Grundschulen „Zum Elefanten“ Kühren und „An der Sternwarte“ in Wurzen. Beide gehören zu insgesamt 18 sächsischen Grundschulen, in denen seit zwei Jahren die Pilotphase Inklusion mit Verzicht auf sonderpädagogische Diagnostik in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung vor der Einschulung oder in der Klassenstufe 1 vorbereitet und erprobt wird.

In einem ersten Bericht über den bisherigen Verlauf haben Vertreter beider Grundschulen zunächst Erfolge konstatiert, und zwar nicht nur für betroffene Kinder, sondern für alle Schüler. Durch das Pilotprojekt sei die Klassenstärke auf maximal 25 Kinder reduziert, personelle Unterstützung gebe es in Form jeweils einer Assistenzkraft. Frau Keding in der Sternwarte-GS unterstütze z. B. im Unterricht, durch Förder- und Fordergruppen, gezielt mit Lese- und Rechentraining, durch die Vermittlung von Lernstrategien, erstelle Förder- und Entwicklungspläne und trainiere soziale Kompetenzen.

Auch dem Lehrerkollegium kommt das Projekt durch verbessertes Team-Teaching zugute, auch wenn mitunter, so Sternwarte-Schulleiterin Frau Bohne, die Zeit für notwendige Absprachen im Schulalltag fehle. Thomas Schorn, der das Projekt in Kühren begleitet, konnte als großen Erfolg verbuchen, dass ein Kind, welches zu Beginn als förderschulbedürftig eingeschätzt worden sei, jetzt in der 2. Klasse ganz normal lernen könne und in der letzten Mathe-Arbeit alles richtig gerechnet habe. Ganz allgemein sei zu sehen, dass durch das besondere Augenmerk auf soziale und emotionale Aspekte auch die schulischen Leistungen der Kinder verbessert werden.

Zu denken gibt allerdings die Einschätzung von Frau Bohne, dass aus ihrer Sicht die meisten Eltern noch nicht verstanden hätten, was Inklusion wirklich bedeutet. Sie würden ihre Kinder in der Schule anmelden, weil sie gehört hätten, dass dort die Klassen kleiner und öfters zwei Lehrer in den Klassen seien. Zum Problem dürfte das spätestens dann werden, wenn ein Schüler an die Schule kommt, der soziale und/oder emotionale Schwierigkeiten aufgrund einer seelischen Behinderung wie z. B. ADHS, Autismus oder einer Traumatisierung hat, die dafür sorgt, dass das Kind sich trotz Unterstützung eben nicht an bestehende allgemeine Regeln halten kann.

Während Behinderungen wie Seh- oder Hörverlust oder körperliche Behinderungen vom Umfeld meist deutlich wahrgenommen werden und Hilfsbereitschaft wecken, ist bei Verhaltensproblemen, die durch seelische Störungen verursacht werden, oft das Gegenteil der Fall: Solche Kinder können recht unbequem für Lehrer und Mitschüler sein und wer die Hintergründe nicht kennt, interpretiert ihr Verhalten als aggressiv und störend und reagiert mit Abwehr und Selbstschutz. Schulen reagieren auf die aus ihrer Sicht mangelnde Anpassungsleistung oftmals rigoros mit Ordnungsmaßnahmen, die bei betroffenen Schülern jedoch zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes und weiterer Traumatisierung führen können.

Probleme könnten sich daraus vor allem für die Kinder ergeben, die nach der erfolgreichen Inklusion an einer der Pilotprojekt-Grundschulen dann auf eine weiterführende Schule gehen wollen, die das Thema Inklusion noch nicht in ausreichendem Maße auf dem Schirm hat oder deren Vertreter mangels Hintergrundwissen, aus Desinteresse oder schlicht aus Überforderung heraus nicht bereit oder in der Lage sind, sich den daraus erwachsenden Herausforderungen zu stellen. Gerade beim Wechsel von der Grundschule in die Oberstufe treten erfahrungsgemäß die größten Probleme für betroffene Kinder auf.

Laut einem Bericht der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft befragte z. B. der Bundesverband Autismus Deutschland im Jahr 2016 Mütter und Väter nach der schulischen Situation. Zwar war die Umfrage nicht repräsentativ, die Antworten haben den Bundesverband dennoch hellhörig werden lassen. Jeder fünfte Schüler mit Autismus wurde demnach schon einmal von der Schule ausgeschlossen, einige monatelang. Für mehr als die Hälfte gab es keine Ersatzschule – die Eltern sprangen als „Lehrer“ ein.

„Das pädagogisch-psychologische Fachwissen, um Schüler mit Autismus zu unterrichten, ist oft nicht da“, sagt Christian Frese, Geschäftsführer beim Bundesverband Autismus. Viele Pädagoginnen und Pädagogen glaubten, Kinder mit Autismus könnten ihr mitunter herausforderndes Verhalten steuern – das sei aber meist nicht der Fall. Sie vom Unterricht auszuschließen, sei keine Lösung – und auch nicht gerechtfertigt, da man ihnen ihr Verhalten nicht vorwerfen kann. Frese ist der Ansicht, dass die in den Schulgesetzen verankerten Ordnungsmaßnahmen wie Schulausschluss auf Schülerinnen und Schüler mit Autismus eigentlich gar nicht anwendbar sind. (Quelle: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/mit-autismus-in-der-regelschule/)

Doch nach wie vor fehlt es an einer entsprechenden gesetzlichen Regelung: Auf unsere Anfrage beim Kultusministerium, wie Inklusionskinder davor geschützt werden können, dass sie im Zuge störungsbedingter Verhaltensweisen durch verhängte Ordnungsmaßnahmen weiter traumatisiert und diskriminiert werden, wurden lediglich die allgemeingültigen Regelungen aus dem sächsischen Schulgesetz zitiert. Erst nach Wirksamwerden dieser Maßnahmen seien die Schulleiter verpflichtet, „den Ausschluss eines Schülers aus der Schule der Schulaufsichtsbehörde mitzuteilen. Diese wird alle Seiten anhören und es wird versucht, gemeinsam eine Lösung zu finden, auch mögliche Unterstützersysteme werden hier beraten. Die Schulaufsichtsbehörde (Landesamt für Schule und Bildung) berät zudem den Schüler, bei minderjährigen Schülern auch die Eltern, darüber, welche andere Schule der Schüler nach Wirksamwerden der Ordnungsmaßnahme besuchen kann.“

Welch enormen psychischen Druck solche zwangsläufig als unverdiente Strafe empfundenen Ordnungsmaßnahmen bei den betroffenen Kindern auslösen können, wissen vermutlich nur Eltern und Angehörige und die Therapeuten, die den seelischen Schaden dann wieder beheben sollen. Welch hohe Verantwortung Lehrer, Erzieher und insbesondere Schulleiter im Umgang mit solchen Kindern tragen, ist leider den wenigsten wirklich bewusst. Solange im sächsischen Schulgesetz keine verbindliche Regelung für die disziplinarische Bewertung von Inklusionsschülern enthalten ist, solange Inklusion in der Praxis eine rein freiwillige Aufgabe der Schule ist, die man per Schulausschluss des betroffenen Kindes getrost jemand anders aufbürden kann, bleibt Inklusion für die Betroffenen immer ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.