Privatwirtschaft kontra Bürgerinteressen – Wurzen stoppt Straßenbauvorhaben

Privatwirtschaft kontra Bürgerinteressen – Wurzen stoppt Straßenbauvorhaben

„Radfahren ist schön“ schwärmte Michael Zerbs zum Abschluss seiner Präsentation der Wurzener Radverkehrskonzeption vorm Stadtrat am 06. November 2018. Auf dem flachen Land scheint der in der Stadtverwaltung für Radverkehr und Straßenbau zuständige Mitarbeiter allerdings nicht so oft unterwegs zu sein, sonst hätte ihn vermutlich die eine oder andere hautnahe Begegnung eines Besseren belehrt.

Denn für die Bewohner der ländlichen Ortsteile ist Radfahren oftmals nicht nur wenig schön, sondern kreuzgefährlich wie das Foto zeigt. Die S42, hier zwischen Kühren und Streuben, fungiert zwar als Staatsstraße und hat auch eine entsprechende Verkehrsbelastung inklusive Schwerlastverkehr, entspricht aber mit durchschnittlich nur 4,80 m Breite nicht einmal den Standards einer einfachen Ortsverbindungsstraße, ein gefahrloses Überholen von Radfahrern mit dem nötigen Sicherheitsabstand ist für größere Fahrzeuge nicht möglich

Anders als in der Stadt, wo so gut wie alle Infrastrukturangebote des täglichen Lebens notfalls auch zu Fuß erreichbar sind, ist das Radfahren auf dem Land aber kein Selbstzweck, sondern für viele Menschen Grundvoraussetzung einer Teilhabe am öffentlichen Leben. Deshalb kämpfen die Einwohner von Sachsendorf, Wäldgen und Streuben seit langem um eine sichere Radverbindung entlang der S42 nach Kühren.

Bei den zuständigen Mitarbeitern der Wurzener Stadtverwaltung stießen die Bitten jedoch lange Zeit auf taube Ohren. Schließlich machten sich im Jahr 2013 drei junge Mädchen aus Sachsendorf, Streuben und Kühren für ihre Ortsteile stark und starteten eine Petition pro Radweg S42, an der sich mehr als 300 Menschen, darunter auch ein großer Teil der Ortschaftsräte, beteiligten und die sie auch selbst im Wurzener Stadtrat an den Oberbürgermeister und in Dresden an den Landtagspräsidenten übergaben.

Seitens der Stadt wurde daraufhin beteuert, man wolle ja gerne helfen, hätte aber keine Möglichkeit, da das zuständige Landesamt für Straßenbau und Verkehr (LASuV) keine Dringlichkeit für die Maßnahme sehe und nicht gesprächsbereit sei. Eine direkte Nachfrage Anfang 2014 beim Leipziger Niederlassungsleiter dieser Behörde, Markus Heier, brachte jedoch Erstaunliches zutage: Seitens des LASuV sehe man durchaus die Gefahren und auch die Dringlichkeit einer Lösung, diese bestünde jedoch nicht darin, einen straßenbegleitenden Radweg zu bauen, sondern in einem grundhaften Ausbau der Straße mit Verbreiterung auf standardgemäße 6,50 m und Anlage eines Sicherheitsstreifens für Radfahrer an den Seiten. Seitens des LASuV sei man bereit, sämtliche Kosten der Baumaßnahme zu übernehmen, obendrein erhalte die Stadt Wurzen für ihren Verwaltungsaufwand, sollte sie das Vorhaben in Eigenregie übernehmen, weitere 10 % der Baukosten als Zuschuss. Ein entsprechender Geschäftsbesorgungsvertrag werde der Wurzener Stadtverwaltung angeboten.

Immenses Bürgerinteresse, Unterstützung des Baulastträgers und eine 110-prozentige Förderung der Maßnahme – man sollte denken, dass die Entscheidung für die Umsetzung des Vorhabens nun recht leicht fallen kann. Doch weit gefehlt: Obwohl die Verwaltung bestätigte, dass seitens des LASuV bereits Anfang 2016 das beschriebene  Vertragsangebot unterbreitet wurde, gab es erst 2017 auf Druck des Ortschaftsratsvorsitzenden Peter Poppe wieder Bewegung in der Sache, das Vorhaben wurde in den Haushaltsplan 2017/18 mit einer Bausumme von rund zwei Millionen Euro und Umsetzung im Jahr 2021 eingestellt.

Umso größer ist aktuell die Ernüchterung: Im gestern vorgelegten Haushaltsentwurf der Stadt Wurzen für die Jahre 2019/20 ist das Vorhaben nicht mehr enthalten. Die lapidare Begründung aus dem Stadthaus, das LASuV habe seine Finanzierungszusage zurückgezogen, muss wohl eher als logische Folge dessen angesehen werden, dass rund drei Jahre lang seitens der Verwaltung keine Unterschrift unter den angebotenen Vertrag erfolgte – auch der geduldigste Vertragspartner wird nach so langer Zeit davon ausgehen müssen, dass seine Offerte nicht auf Gegenliebe stößt.

Weder für die Betroffenen, noch die Initiatorinnen der Petition gab es im Vorfeld der Entscheidung Informationen oder Gesprächsangebote. Die offenkundige Tatenlosigkeit seitens der Stadt ist auch deshalb unverständlich, da hier die Chance aus der Hand gegeben wurde, ein langjährig bestehendes Problem im Sinne der betroffenen Bürger zu lösen, ohne dass im Stadthaushalt dadurch Kosten entstehen bzw. der Stadt dadurch Fördergelder in Höhe von rund 2,2 Mio. Euro entgangen sind.

Denkbar wäre, dass der zuständige Fachbereich sich von der Personalausstattung her nicht in der Lage sah, diese Herausforderung zu meistern, eine Bankrotterklärung, die auch deshalb schwer nachvollziehbar ist, weil in der jüngsten Vergangenheit ähnlich große Bauvorhaben erfolgreich gemeistert wurden und es dank der zusätzlichen Finanzierung durch das LASuV auch möglich gewesen wäre, externe Hilfe zu nutzen.

Eine andere Erklärung haben die Einwohner der betroffenen Ortsteile schon länger in petto: Vonseiten eines ortsansässigen Landwirtschaftsbetriebes regt sich schon seit Langem Widerstand gegen das Bauvorhaben. Ein Grund könnte sein, dass entlang der S42 in früheren Zeiten der sogenannte Sommerweg verlief, dessen Grundstück zur Straße gehört, aber schon viele Jahre eingeackert und in die landwirtschaftliche Nutzung “einverleibt” wurde. Die Befürchtung liegt nahe, dass die Stadt sich scheut, dieses Problem anzugehen und dass privatwirtschaftliche Interessen den Sicherheitsbelangen der betroffenen Bürger vorangestellt werden.

Für diese Annahme spricht auch der Umstand, dass, wie vom verantwortlichen Verwaltungsmitarbeiter Michael Zerbs angegeben, die Stadt derzeit eine Routenänderung der in der überregionalen Radverkehrskonzeption von Landkreis Leipzig und Land Sachsen verankerten Streckenführung des Radweges Wurzen-Oschatz diskutiert: Die bisher geplante Route, die als Teilstück die Strecke Kühren-Streuben entlang der S42 enthält, soll von Kühren aus stattdessen entlang der B6 als neu angelegter straßenbegleitender Radweg geführt werden, wodurch die S42 gänzlich aus diesen überregionalen Planungen herausfallen würde.

Eine Anfrage an Michael Zerbs nach den Gründen für die diskutierte Routenänderung oder dem aus ökologischer Sicht zu bewertenden erhöhten Flächenbedarf für die Neuanlage eines straßenbegleitenden Radwegs entlang der B6 im Vergleich mit der bisher favorisierten Streckenführung entlang schon bestehender Wege blieb bislang genauso unbeantwortet, wie die zur umstrittenen Grundstückssituation an der Staatsstraße. Bürgerbeteiligung, demokratische Mitbestimmung, Transparenz von Verwaltungsentscheidungen? Im Falle der S42 wohl nicht.

Aktualisierung vom 18.12.2018:

Einer zwischenzeitlich vorliegenden Stellungnahme der Stadt Wurzen ist bezüglich der Grundstückssituation zu entnehmen: “Es existiert keine Planung, demnach gibt es noch keine betroffenen Grundstücke und mit Landwirten etc. gab es noch keine Gespräche seitens der Stadtverwaltung.” Aussagen zu betroffenen Grundstückseigentümern und deren Belange seien nichts als Spekulation. Ein zur Klärung dieser Frage erbetener Grundbuchauszug, der Aufschluss z. B. über die Breite des Straßengrundstücks und benachbarte, evtl. für den Straßenbau in Anspruch zu nehmende Grundstücke geben könnte, wurde bislang nicht vorgelegt.

Die diskutierte Routenänderung des Radwegs Wurzen-Oschatz wird damit erklärt, dass der Landkreis Nordsachsen seine Radverkehrskonzeption gegenwärtig überarbeitet und dort ein straßenbegleitender Radweg an der B 6 bis Kühren vorgesehen ist. In den Unterlagen der Stadt Wurzen sei die Streckenführung über Streuben derzeit immer noch die Variante 1. Gründe, die für die alternative Streckenführung sprechen würden, seien vom Landkreis Nordsachsen nicht genannt worden, Überlegungen zum Flächenbedarf gebe es bislang nicht. Weshalb der Landkreis Nordsachsen Planungen auf dem Gebiet des Landkreises Leipzig betreibt, zumal beide von Nordsachsen aus angedachten Routen in den gegenwärtig geplanten Weg über die S42 münden, wird nicht deutlich.

Quelle: Präsentation Radinfrastruktur im Stadtrat Wurzen vom 06. November 2018