Wurzener Grüne erwägen Verfassungsbeschwerde

Wurzener Grüne erwägen Verfassungsbeschwerde

In der Kritik ist das Sitzzuteilungsverfahren nach d’Hondt schon seit Langem, da es nachweislich kleine Parteien und Wählervereinigungen zugunsten der großen Parteien benachteiligt. Konkret geschieht das, indem Sitze, die von der prozentualen Stimmenverteilung her kleinen Parteien zugerechnet werden müssten, durch ein spezielles Rechenverfahren den Parteien zugeordnet werden, die die meisten Stimmen erhalten haben.

Aktuelles Beispiel ist der Ausgang der Stadtratswahl am 26. Mai 2019 in Wurzen, bei der die CDU nach vorläufigem Ergebnis mit 5178, dies entspricht 24,3 %, die meisten Stimmen erhielt. Von den 26 zu vergebenden Stadtratssitzen würden auf die CDU demnach 6,32 Sitze entfallen. Die kleinste Partei, Bündnis 90/Die Grünen, erhielt bei der Wahl 678 Stimmen, was einem Anteil von 3,2 % und damit 0,83 Sitzen entspricht. Obwohl aber die Grünen prozentual deutlich näher an einem Stadtratssitz abgeschnitten haben, erhält nach dem d’Hondt Verfahren die CDU einen siebenten Sitz im Stadtparlament und wird dadurch stärkste Fraktion.

Ziel des d’Hondt-Verfahrens war es ursprünglich, den großen Parteien notwendige Mehrheiten zu sichern und kleine „Splitterparteien“ aus den Parlamenten herauszuhalten, damit ein möglichst effektives Verwaltungshandeln gewährleistet ist. Doch spätestens seitdem die Bürgermeister und Landräte nicht mehr von den jeweiligen Gemeinderäten abhängig sind, sondern direkt von den Bürgern gewählt werden, ist diese Notwendigkeit entfallen, vielmehr sollen die Gemeindeparlamente den Anspruch erfüllen, möglichst die gesamte Breite des Wählerwillens darzustellen.

Mittlerweile ist das d’Hondt-Verfahren daher in fast allen Bundesländern durch andere Zählverfahren, nämlich das Verfahren nach Hare/Niemeyer oder nach Sainte-Laguë/Schepers ersetzt worden, die den Wählerwillen erheblich genauer umsetzen können – nach beiden Verfahren hätten die Grünen in Wurzen einen Sitz im Stadtrat erhalten, die CDU nur sechs (siehe Aufstellung unten). Auf der Ebene der Kommunalwahlen wird d‘Hondt lediglich noch im Saarland und in Sachsen angewendet.

In Bayern, wo das Sitzzuteilungsverfahren nach Hare/Niemeyer verwendet wird, gab es im Oktober 2017 eine Expertenanhörung im Innenausschuss des Bayerischen Landtages. Hintergrund waren Planungen der CSU, zum d’Hondt-Verfahren zurückzukehren. Das Ergebnis der Experten fiel eindeutig aus, in einem Bericht des Bayerischen Rechts- und Verwaltungsreports ((BayRVR) vom 18.10.2017 heißt es u. a.:

„Sainte-Laguë-Schepers bildet den Wählerwillen bestmöglich ab und kommt der verfassungsrechtlichen Vorgabe nach der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen am nächsten“, urteilte der Deggendorfer Mathematik-Professor Johannes Grabmeier. Unterstützung erhielt er dafür von mehreren Staats- und Verfassungsrechtlern. Dagegen spiegele das Verfahren nach d’Hondt den Wählerwillen am wenigsten wider, während Hare-Niemeyer zwar weniger verzerrend wirke, in sich aber widersprüchlich sei.“

Warum in Sachsen bisher jegliche Versuche, am bestehenden Wahlgesetz etwas zu ändern, gescheitert sind, ist nicht schwer zu erraten. Verantwortlich für die entsprechende Gesetzgebung ist der Sächsische Landtag, in dem die CDU, also die Partei, die in den meisten Gemeindeparlamenten des Freistaats die größten Fraktionen stellt und damit von d’Hondt am meisten profitiert, die stärkste Kraft ist.

Dass das Landesparlament von sich aus die Wahlgesetze ändert, ist demnach kaum zu erwarten, zuletzt scheiterte ein entsprechender Reformvorschlag der Grünen-Landtagsfraktion im Jahr 2013. Deshalb wollen die Wurzener Grünen nun versuchen, sozusagen von der Basis aus für einen Sinneswandel auf Landesebene zu sorgen – und erwägen hierfür eine verfassungsgerichtliche Beschwerde.

Begründen ließe sich diese zum einen damit, dass, bezogen auf die aktuell erfolgte Sitzverteilung nach der Wahl am 26. Mai 2019 durch die Anwendung des d’Hondt-Verfahrens die verfassungsmäßig vorgeschriebene Gleichheit der Wahl nicht gewährleistet ist. Um einen Sitz im Stadtparlament zu bekommen, hätten beispielsweise die Grünen weit mehr Wählerstimmen erhalten müssen, als die CDU benötigt, um ihren siebenten Sitz zu erhalten, grüne Wählerstimmen werden demnach geringer gewichtet bzw. haben einen geringeren Erfolgswert, als die für die CDU.

Zudem sind Gemeinderatswahlen per Definition nicht Parteien- oder Listenwahlen, sondern laut sächsischem Wahlgesetz personalisierte Verhältniswahlen – die Wähler geben ihre Stimme Personen ihres Vertrauens und können ihre drei Stimmen auch Vertretern unterschiedlicher Parteien zuordnen – entsprechend sollten im Gemeinderat am Ende auch die Personen vertreten sein, die die meisten Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten. Auch dieses Ziel wird durch die Anwendung von d’Hondt nicht umgesetzt, da die Kandidatin der Grünen, die mit 469 Stimmen auf Platz 12 der Gesamtbewerberliste landete, im Stadtrat trotzdem nicht vertreten ist, dafür aber 14 andere Bewerber, die weniger Stimmen erhalten haben.

Nachdenkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass infolge der durch d’Hondt bedingten Verzerrung des Wählerwillens de facto eine ganze Partei am Einzug ins Stadtparlament gehindert und damit zahlreicher Möglichkeiten der Teilnahme an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung beraubt wird – was gerade aktuell mit Blick auf die starke Repräsentanz rechts gerichteter Wählervereinigungen auf kommunaler Ebene auch bezogen auf den gesamten Freistaat Sachsen ein nicht zu unterschätzendes Problem darstellen dürfte, das vom Gesetzgeber so wohl nicht gewollt sein kann.

 

Unterschiedliche Sitzverteilung nach Zählverfahren

Grundlage sind die erzielten Stimmenanteile der Parteien/Wählervereinigungen zur Stadtratswahl in Wurzen am 26. Mai 2019

Verfahren Hare/Niemeyer

  1. Schritt. Stimmen der Partei durch Gesamtstimmenzahl mal Gesamtsitzzahl – der abgerundete Wert wird als Sitzzahl zugeteilt
  2. Schritt: Restsitze werden in der Reihenfolge der größten Nachkommateile zugeteilt.
Partei Stimmenzahl Wert 1. Schritt 2. Schritt Gesamtsitze
CDU 5187 6,32 6 6
Linke 2570 3,13 3 3
BfW 4893 5,96 5 +1 6
SPD 2321 2,83 2 +1 3
Grüne 678 0,83 0 +1 1
AfD 3351 4,08 4 4
NFW 2337 2,85 2 +1 3

 

Verfahren Sainte-Laguë/Schepers

Die Stimmen der Parteien werden durch 0,5 − 1,5 − 2,5 … n − 0,5 dividiert und die Sitze in der Reihenfolge der größten sich ergebenen Höchstzahlen zugeteilt.

CDU Linke BfW SPD Grüne AfD NFW
10374

(1)

5140

(4)

9786

(2)

4642

(6)

1356

(17)

6702

(3)

4674

(5)

3458

(7)

1713

(12)

3262

(8)

1547

(14)

452 2234

(9)

1558

(13)

2075

(10)

1028

(21)

1957

(11)

928

(25)

1340

(18)

935

(24)

1482

(15)

734 1398

(16)

663 957

(22)

668
1153

(19)

1087

(20)

745
943

(23)

890

(26)

798
6 3 6 3 1 4 3

 

Verfahren d’Hondt

Die Stimmen der Parteien werden durch 1, 2, 3, … n dividiert und die Sitze in der Reihenfolge der größten sich ergebenen Höchstzahlen zugeteilt.

CDU Linke BfW SPD Grüne AfD NFW
5187

(1)

2570

(5)

4893

(2)

2321

(8)

678 3351

(3)

2337

(7)

2594

(4)

1285

(13)

2447

(6)

1161

(16)

1676

(10)

1169

(15)

1729

(9)

857

(21)

1631

(11)

774

(25)

1117

(17)

779

(24)

1297

(12)

643 1223

(14)

580 838

(22)

584
1037

(18)

979

(19)

670
865

(20)

816

(23)

741

(26)

7 3 6 3 0 4 3

 

 

Quellen/Hintergrundinformationen zum Thema:

https://bayrvr.de/2017/10/18/landtag-innenausschuss-experten-diskutieren-ueber-sitzverteilung-in-den-kommunalparlamenten/

http://www.wahlrecht.de/verfahren/index.html

https://www.math.uni-augsburg.de/htdocs/emeriti/pukelsheim/2000a.html