Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister

Diskussion um Wurzener NSDAP-Oberbürgermeister

Für viele Wurzener ist er ein Held:  Am Stadthaus hängt seit 1995 links neben der Eingangstür, für jeden Bürger und Besucher sichtbar, eine Tafel, auf der daran erinnert wird, dass am 24. April 1945 in diesem Hause Oberbürgermeister Dr. Armin Graebert gegenüber Major Conley die Kapitulation Wurzens vollzog. „Damit wurden Einwohner, Flüchtlinge, Kriegsverwundete und Zwangsarbeiter vor dem Tode sowie die Stadt vor der Zerstörung bewahrt.“

Die vom Wurzener Altstadtverein initiierte Würdigung dieser Rettungstat war damals von den Ratsfraktionen im Wurzener Stadtrat mitgetragen worden.

Etwas anders waren die Reaktionen zehn Jahre später, als eine Gruppe ehemaliger Pädagogen um Heinz Gey den Vorschlag machte, eine Straße in der Stadt nach Dr. Armin Graebert zu benennen. „Ja zur Würdigung der Verdienste Graeberts, nein zu einer Ehrung und Straßenbenennung“, fasste der damalige SPD-Stadtrat Peter Konheiser die Haltung seiner Ratsfraktion zusammen. (Quelle: LVZ 06.09.2006)

Widerstand kam auch vom Netzwerk für Demokratische Kultur Wurzen (NDK), das forderte, zuvor dessen eventuelle Verstrickung in Nazi-Verbrechen zu untersuchen.

Statt einer Straßenbenennung entschied sich die Stadtspitze damals dafür, der Porträtgalerie des Plenarsaals im Stadthaus ein Bildnis des ehemaligen Oberbürgermeisters Graebert hinzuzufügen. Nähere Untersuchungen zu dessen NSDAP-Vergangenheit, wie vom NDK gefordert, gab es offenbar nicht.

Ungeachtet dessen brachte die Wurzener CDU-Fraktion am 01. April 2019 erneut den Antrag ein, eine Straße in der Kernstadt von Wurzen umzubenennen – diesmal allerdings nicht mit Blick allein auf Dr. Graebert. Stattdessen sollten außer ihm auch Otto Schunke und Kurt Krause als drei der „fünf Retter von Wurzen“ jeweils mit einer Straßenbenennung geehrt werden. Die Einbeziehung des Sozialdemokraten Otto Schunke und des Kommunisten Kurt Krause sorgte augenscheinlich für größere Akzeptanz des Vorschlages, schließlich wurde der Beschlussvorschlag bei zwei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen mehrheitlich angenommen.

Bereits im Zuge der Beschlussfassung zur Straßenbenennung regten sich jedoch erneut Zweifel an den Inhalten der vom damaligen CDU-Fraktionschef Matthias Rieder vorgelegten Beschlussvorlage. Verwunderlich ist unter anderem, dass in den eigenen „Kurzen Notizen für spätere Aufzeichnungen“ von Dr. Graebert mit keiner Silbe von angeblichen konspirativen Zusammenkünften und Absprachen im Vorfeld der Kapitulation, beispielsweise mit Otto Schunke und Kurt Krause, wie im Beschlussvorschlag behauptet, die Rede ist, stattdessen umfangreich die Begegnungen mit Parteigenossen und Kampfkommandant Gestefeld beschrieben werden. Immerhin datieren die Aufzeichnungen beginnend ca. am 16. April bis nach dem 5. Mai, als die Russen die Stadt Wurzen übernahmen und insofern eine nachweisliche Verbindung zu Antifaschisten bereits im Vorfeld der Kapitulation ihm wahrscheinlich sehr geholfen hätte. (Quelle: Heinz Gey: Wurzens Schicksalstage – Die letzten Kriegstage in Wurzen, Druckerei Bode GmbH)

Doch die eigentlichen Zweifel bezogen sich noch immer auf die Vergangenheit von Dr. Armin Graebert als NSDAP-Mitglied und seine mögliche Verstrickung in die Judenverfolgung. Zwar existieren nur wenige Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Wurzener Oberbürgermeister, er war jedoch Kämmerer und damit hoher Stadtbeamter in Weimar zu einer Zeit, als dort das Konzentrationslager Buchenwald errichtet wurde. Zudem wohnte er zu Kriegsende nachweislich in der Fischerstraße 3, heute Heinrich-Heine-Straße 3, der Villa der jüdischen Eheleute Luchtenstein, die von den Nazis deportiert und umgebracht wurden.

Inwiefern Graebert in seiner Zeit als NSDAP-Mitglied und kommunaler Mandatsträger an den Nazi-Verbrechen tatsächlich beteiligt war, blieb zum Zeitpunkt der Beschlussfassung letztendlich auch deshalb unklar, weil es bis dahin offenbar nie eine fachlich und sachlich fundierte Recherche dazu gegeben hat.

Wie aus einem Bericht der LVZ vom 07.09.2006 hervorgeht, hat es aber bereits damals im Zuge der geplanten Straßenumbenennung Bestrebungen gegeben, entsprechende Recherchen zu betreiben. „Der Chef der Standortinitiative Wurzen (SIW) Ulrich Heß will die Rolle des früheren Oberbürgermeisters Armin Graebert untersuchen. Dieses Angebot hat der promovierte Historiker der Verwaltungsspitze unterbreitet. „Erfahrungen aus anderen Städten haben gezeigt, dass es wenig Sinn macht, die Diskussion über die Benennung einer Straße ohne hinreichende Kenntnis laufen zu lassen“, meint er. … Hauptfrage: Überwiegt das Verdienst, Wurzen 1945 kampflos an die Amerikaner übergeben und dadurch viel Leid verhindert zu haben, oder die Mitverantwortung für Nazi-Verbrechen, die er als NSDAP-Mitglied trägt? …“

Das Angebot wurde vonseiten der Stadtspitze unter dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Jürgen Schmidt (CDU) unter Bezug auf die als ausreichend erachteten Recherchen des Stadtchronisten Wolfgang Ebert jedoch nicht wahrgenommen.

Im Zuge der aktuellen Debatte in gleicher Sache haben sich zu Beginn des Jahres 2020 eine Journalistin, ein Wurzener Heimatforscher und ein Schüler des Wurzener Lichtwer-Gymnasiums vorgenommen, Licht ins Dunkel  zu bringen und im Rahmen des Projekts „Weltoffenes Sachsen – Meine Zukunft Wurzener Land“ das zeitgeschichtliche Wirken des ehemaligen Wurzener Oberbürgermeisters Dr. Armin Graebert in der Zeit des Nationalsozialismus bis zum Kriegsende zu bewerten.

Auf offene Ohren und großes Interesse stieß das Vorhaben beim Wurzener Oberbürgermeister Jörg Röglin. Seine Intention, wie er heute sagt, war in erster Linie, Schaden von der Stadt abzuwenden. Aufgrund der öffentlich gewordenen Zweifel am Wahrheitsgehalt der bisher vorliegenden Informationen und an der Person Dr. Armin Graebert habe er es für nötig erachtet, vor einer Umsetzung des Stadtratsbeschlusses sachlich und objektiv zu klären, ob und in welchem Maße dieser Schuld oder Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus auf sich geladen habe.

Vor allem sei ihm wichtig gewesen, dass diese Aufarbeitung nicht, wie zu befürchten sei, von Dritten außerhalb, sondern aus der Wurzener Stadtgesellschaft selbst komme und die Stadt eigene Verantwortung dafür übernehme.

Wie wichtig diese Unterstützung war, zeigte sich im Verlauf der Recherchen – ohne den Bezug zum Demokratieprojekt und die Fürsprache von Jörg Röglin wäre so manche Archivtür verschlossen geblieben und manche Akte läge noch immer ungelesen im Schrank. Wie berechtigt die Zweifel und Sorgen waren, zeigte sich indes gleich zu Beginn der Recherchen beim Blick in die Personalakten von Dr. Armin Graebert:

Laut der im Bundesarchiv gespeicherten NSDAP-Gaukartei ist Dr. Armin Graebert nämlich nicht, wie in der Beschlussvorlage der CDU und bis zum heutigen Tag fälschlich im ihn betreffenden Wikipedia-Eintrag behauptet, im Jahr 1935 in die NSDAP eingetreten – die Kartei zeigt das Eintrittsdatum 01.05.1933. Dieses Datum ist insofern bedeutsam, als die NSDAP aufgrund der zahlreichen Neueintritte im Zuge ihrer Machtübernahme und insbesondere nach der Reichstagswahl im März 1933 einen Aufnahmestopp mit Wirkung zum 01. Mai 1933 erließ.

Den ironisch als „Märzgefallene“ bezeichneten Neumitgliedern, die zu dieser Zeit einen Aufnahmeantrag gestellt hatten, wurde von den „Alten Parteigenossen“, die vor dem 30. Januar 1933 beigetreten waren, nachgesagt, dass sie sich von ihrem Beitritt lediglich die Aussicht auf Fortkommen und Pfründe bei den Nationalsozialisten erhofften. (Quelle: Wolfgang Benz (Hrsg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Fischer Taschenbuch, 2009)

Das gleiche Datum für den Eintritt in die NSDAP geht auch aus dem ebenfalls aus dem Bundesarchiv stammenden Personalblatt zu Dr. Armin Graebert hervor – dort sind auch die von ihm noch während seiner Amtszeit in Wurzen ausgeübten Parteiämter verzeichnet.

Demnach war er unter anderem Lektor im Hauptamt Schrifttumspflege bei der Reichsleitung der NSDAP, Leiter der Hauptstelle Wohnungs- und Siedlungswesen im Gauamt für Kommunalpolitik bei der Gauleitung Sachsen der NSDAP und Mitarbeiter im Gauheimstättenamt der DAF bei der Gauwaltung Sachsen – Parteiämter also, die weit über die Region und zum Teil auch über den Gau Sachsen hinaus auf Ebene der Reichsleitung angesiedelt waren und ein reines Mitläufertum im Zuge seines „Irrglaubens an die Heilsversprechen der NSDAP, Arbeit, Lohn und Brot und gutes Wohnen für alle zu sichern“, wie es im Beschlussvorschlag der CDU heißt, mit Sicherheit ausschließen.

Grund genug für tiefer gehende Recherchen, zunächst im Stadtarchiv Weimar: Teil 2 unserer Reportage wird in Kürze zunächst die Tätigkeit von Dr. Armin Graebert als dortiger Kämmerer beleuchten – zu einer Zeit, als in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt das Lager Buchenwald entstand.